2014-07 @ De omnibus dubitandum

Zeit­zei­chen Port Woling - Am ver­gan­ge­nen Don­ners­tag Abend (am 10. Juni 2014) besuch­te ich eine Buch­le­sung im Thea­ter → “Stell­werk” in Wei­mar. Der → Eck­haus-Ver­lag prä­sen­tier­te das neue Buch → “Ich erin­ne­re mich” von → Wolf­gang Held (sie­he auch → Rezen­si­on des Eck­haus-Ver­lag).


An allem ist zu zweifeln

Im Buch ist zu lesen: “Mit zuneh­men­dem Alter setz­ten sich die Erin­ne­run­gen wie Vögel in mei­nen Lebens­baum. Und dann lausch­te ich ihrem Gesang. Mir schien, sie erzähl­ten von einem Men­schen, den ich irgend­wie kann­te.” Ja - der Schrift­stel­ler lauscht in sei­ne Ver­gan­gen­heit. Er hält im Buch Erin­ne­run­gen fest mit his­to­ri­scher Trag­wei­te und Weitsicht. 

Wolf­gang Held - vor einem Jahr lern­te ich ihn per­sön­lich ken­nen. War­um erst so spät? Irgend­wie spür­te ich eine See­len­ver­wandt­schaft zu ihm. Wolf­gang Held - ein Mensch, den man sei­ne Lei­den ansieht - in sei­nem stän­di­gen Nach­den­ken über mensch­li­che Unzu­läng­lich­kei­ten - aber auch sei­ne Freu­de spürt - in sei­nem Bestre­ben, neu­en Gedan­ken zu fol­gen. Wenn er Freu­de emp­fin­det oder wenn er Schmer­zen erlei­det, bleibt ihm schon immer nur eins - das Schrei­ben. Genau das ist der Punkt,in dem ich so unend­lich viel Ver­ständ­nis für ihn habe. Den Kopf befrei­en - das kann Schrei­ben erzeugen.

Als Vier­zehn­jäh­ri­ger such­te Wolf­gang Held im April 1945 im KZ Buchen­wald ver­zwei­felt sei­nen dort inhaf­tier­ten Onkel Rudi. Er fand Lei­chen­ber­ge vor. Ein befrei­ter Häft­ling sprach zu ihm: “Da sind Trä­nen nicht genug, mein Jun­ge.” Ja, das war nicht genug. Wolf­gang Held begann zu schrei­ben. Er schrie sei­ne Gedan­ken in die Welt - durch sein Schreiben.

Ich suche nach dem Wesen der Bot­schaf­ten, die das Schaf­fen von Wolf­gang Held ver­mit­telt. Zwei Kern­ge­dan­ken erschlie­ßen sich mir. Der Mensch soll zwei­feln - Wolf­gang Held meint damit das Hin­schau­en, Hin­ter­fra­gen, Prü­fen, Gege­be­nes nicht als Gege­ben hin­neh­men - und der Mensch soll den Nächs­ten ach­ten, egal wel­cher Welt­an­schau­ung oder Reli­gi­on er ange­hört. Hei­li­ger Joseph - nein - ich rede hier nicht von Gebo­ten aus Reli­gio­nen. Ich rede ein­fach über etwas Menschliches.

Ein latei­ni­sches Sprich­wort besagt: “De omni­bus dubi­tan­dum.” - zu Deutsch: “An allem ist zu zwei­feln.” Ein Zitat - dass das Leben von Wolf­gang Held sym­bo­li­siert. Bereits → Karl Marx (1818 - 1883) - der gro­ße Öko­nom, Phi­lo­soph und poli­ti­sche Jour­na­list - trug die­ses Zitat in das Poe­sie­al­bum sei­ner Toch­ter ein. Er gab die­ser The­se einen beson­de­ren Stel­len­wert - einen Wert, den spä­te­re selbst­er­nann­te Erben sei­ner Ideen des dia­lek­ti­schem Mate­ria­lis­mus (Sta­lin, etc.) ihrem Volk nicht zubilligten.

An allem ist zu zwei­feln” - für Wolf­gang Held war wich­tig das Hin­schau­en und nicht ein ein­fa­ches Hin­neh­men von vor­ge­setz­ten Fak­ten. Er dach­te frei nach der Brecht’schen The­se, gemäß der man sich im Zwei­fel für den Zwei­fel ent­schei­den sol­le. Eine Lebens­ein­stel­lung, die ihm kein ein­fa­ches Dasein bescher­te. Und - dar­aus ent­stand sein Motiv für das Schrei­ben. Schrei­ben muss­te er - aus Freu­de und aus Schmerz. Das Schrei­ben war wie ein Ven­til für den Über­fluss sei­ner Gedanken.

Bei aller Über­zeu­gung - Zwei­fel ist ein Eli­xier, das jedem Men­schen zuste­hen soll­te. Es ent­spricht dem Wesen des Men­schen, mit ande­ren zu tei­len - auch sei­ne Gedan­ken. Zwei­fel - stand­haf­tes­te Men­schen, wie ein → Wal­ter Jan­ka, mit dem Wolf­gang Held befreun­det war, geneh­mig­ten sich die­ses Eli­xier. So blie­ben sie sich selbst treu, behiel­ten ihre Tole­ranz zu Anders­den­ken­den, blie­ben sich auch selbst treu in Zei­ten, als ihnen eige­ne Weg­ge­fähr­ten grob in den Rücken fie­len - sie im eige­nen Sozia­lis­mus weg­ge­sperrt wurden.

Wolf­gang Held - ein beken­nen­der Kom­mu­nist, der nicht in das übli­che Sche­ma ver­gan­ge­ner Jah­re ein­zu­ord­nen ist. Er stell­te früh die Fra­ge nach der Reli­gi­on. Es ist sei­ne Fra­ge nach der Tole­ranz. Einer tra­ge des ande­ren Last - das wur­de im Kern die Lebens­er­fah­rung von Wolf­gang Held. → “Einer tra­ge des ande­ren Last” wur­de so auch sein Haupt­werk - als Film und als Buch ein Welt­erfolg. Den Nächs­ten tole­rie­ren und mit­ein­an­der tei­len unab­hän­gig von Welt­an­schau­ung oder Reli­gi­on. Wie sol­len wir mit­ein­an­der Umge­hen - in zivi­li­sier­ter Form oder im Aus­le­ben rei­ner tie­ri­scher Instink­te? Plu­ra­li­tät - die fried­li­che Koexis­tenz unter­schied­li­cher Mei­nun­gen - ist fun­da­men­tal für das mensch­li­che Über­le­ben in der Zukunft. Der Lau­da­tor zu die­ser Buch­ver­öf­fent­li­chung - sieht das so: “Frie­den beginnt dort, wo kon­trä­re Men­schen mit­ein­an­der umge­hen.” Und ich mei­ne, dass Krieg dort beginnt, wo Glau­bens­rich­tun­gen auf ihrem Stand­punkt unver­söhn­lich behar­ren und zu die­sem Zweck alle Anders­den­ken­den ver­ban­nen. Ver­hee­ren­de ultrare­ak­tio­nä­re bzw. extre­mis­ti­sche Erschei­nun­gen resul­tie­ren dar­aus - sie­he in der Gegen­wart die → ISIS (Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on Isla­mi­scher Staat im Irak und Syri­en) oder auch For­men des Staats­extre­mis­mus, wie sie selbst in Demo­kra­tien aktu­ell anzu­tref­fen sind - sie­he → Über­wa­chungs- & Spio­na­ge­af­fä­re 2013 oder das Unter­drü­cken von basis-demo­kra­ti­schen Mecha­nis­men bzw. Miss­ach­ten des Sou­ve­rän, des Volkes.

Ohne den Zwei­fel und ohne Plu­ra­lis­mus fin­den wir uns wie­der in For­men der Dik­ta­tur. Und - es wird wie­der kos­ten vie­le Opfer - Ange­klag­te und sich Ver­bie­gen­de wer­den wie­der glei­cher­ma­ßen Opfer sein. Beden­ken die Mäch­ti­gen, die Herr­schen­den die Fol­gen, von dem, was sie da tun?

Gast­red­ner auf die­ser Buch­le­sung waren auch der Kor­re­spon­dent, Rund­funk- und Zei­tungs­jour­na­list → Vol­ker Mau­ers­ber­ger und der lang­jäh­ri­ger Chef­dra­ma­turg der → DEFA in Babels­berg Dr. Die­ter Wolf. Bei­de sind eng ver­knüpft mit der Geschich­te von Wolf­gang Held. Wir erle­ben das in dem vor­ge­stell­ten Buch. Über das Schick­sal vom Onkel Rudi - u. a. im → Straf­ba­tail­lon 999 - erfah­ren wir genau­so mehr, wie über die unglaub­li­che Stär­ke Wal­ter Jan­kas und wei­te­rer Weg­ge­fähr­ten von Wolf­gang Held. “Geschich­te lebt in den Geschich­ten der Men­schen fort” - ein Kre­do des Eck­haus-Ver­la­ges. Lesen wir die­se Geschich­te und wir stär­ken unser Ver­mö­gen, zu zwei­feln und unse­re Fähig­keit, plu­ra­lis­tisch zu han­deln sowie die Last des Ande­ren mit­zu­tra­gen - in unser aller Interesse.

Über Wolf­gang Held und sein Leben sagt der Lau­da­tor wei­ter­hin: “Er steht für sei­ne Feh­ler gera­de, aber er hat kei­nen Anlass, sich in Sack und Asche zu bege­ben …” Nein, das hat er wahr­lich nicht. Wenn wir uns gemein­sam ver­stän­dig machen kön­nen und dür­fen, den ande­ren ver­su­chen, zu ver­ste­hen, wird die Last des Ande­ren, die wir mit­tra­gen, kei­ne unan­ge­neh­me Last. Und ver­ges­sen wir dabei nicht - ganz dem Anlie­gen von VoxPo­pu­li ent­spre­chend: “An allem ist zu zwei­feln.” - “De omni­bus dubi­tan­dum”.

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