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Tinnitus-Outing
Kolumne Port Woling - Müssen wir das Geheimnis des Tinnitus verstehen?
Das Geheimnis des Tinnitus
Wieder einmal versuchte heute ein TV-Reporter in einem Magazin das Leiden des Tinnitus zu erklären. Erschütternd, welch falsche Tatsachen und Hoffnungen er verbreitete. Kaum verwunderlich, wie wenig das Problem, diese tragische Krankheit und Folgen Beachtung findet.
Im Gegenzug erinnere ich mich an ein Tinnitus-Outing eines Betroffenen.
Freunde, schlagt nicht gleich das Buch zu – vielleicht wollt ihr einen Betroffenen und seine ganz besonderen Fähigkeiten verstehen lernen. Ich will es als leichte Kost servieren – wie er es wollte.
Hier sein Outing über eine der geheimnisvollsten Krankheiten und seine Folgen.
Ein Betroffener …
… outete sich mir und der Welt gegenüber. Nicht nur Fußballer outen sich. Jetzt sind auch Inhaber diverser Krankheiten dran.
Er drängte mich – er wolle sich jetzt und hier outen!
Das soll er auch – wurde ihm kürzlich auf einer eigentlich vergeblichen Rehabilitation in einer Tinnitus-Fachklinik gelehrt.
Er begann stockend seine Beichte. Er sei in Folge seines hochgradigen, permanenten Tinnitus Aurium …
1. ein Heiliger
2. ein Klon
3. eine Tinnitus-Persönlichkeit.
So – nun ist es raus. Ich beginne, ihn nur langsam zu verstehen. Nachfolgende Erzählung macht mir Vieles klarer. Er bittet um Entschuldigung, dass er 31 Jahre dafür gebraucht hat, über seine der chronischen, auditiven Wahrnehmung geschuldeten speziellen Veranlagungen zu berichten.
Etwa drei Millionen Deutsche sind von dieser Krankheit betroffen. Von diesen Betroffenen besitzen wiederum 1 % die besonders perfiden Folge-Eigenschaften der allerschwersten, chronischen Form. Er gehört zu den Letzteren.
Jetzt erst mal ausatmen – er hat es gesagt – endlich! Man sieht seine Erleichterung. Aber – wie sieht man ihn jetzt noch? Tickt der noch normal? Schaut bitte erst mal weiter.
Was ist das Besondere dieser nicht allzu normalen Veranlagungen?
Er war jetzt – nach über 30 Jahren täglichen, bewussten Leidensdruck – erstmalig auf medizinischer Rehabilitation. Da wurde ihm eine Menge klarer.
Die verkannte Krankheit
Hier die grausame Wahrheit.
Tinnitus ist permanenter Lärmterror!
Bei dem Versuch einer Erklärung – hier zuerst das Schlimmste für Betroffene. Fachärzte sprechen bei chronischem, hochgradigem Tinnitus ganz klar von einer Krankheit – der Gesetzgeber aber nicht. Für den Gesetzgeber ist es NUR ein Symptom bzw. Folge von Schwerhörigkeit. Was für ein verachtender Schwachsinn – weiß jeder Betroffene. Was für eine Ausgrenzung von Erkrankten, was für ein Diskriminierung bzw. In-die-Ecke-stellen.
Schwerhörigkeit ist höchstens eine Folge langjährigen Tinnitus. Die Krankheit geht bei den meisten Betroffenen in der Folge gleichzeitig einher mit einer Schwerhörigkeit im gleichen Frequenzbereich, aber mitunter auch Gleichgewichtsstörungen oder fehlendem Richtungshören.
Ungleich schlimmer sind aber die breiten Folgewirkungen des Krankheitsbildes. Das ist das Problem. Warum wohl will die Behörde Tinnitus nicht als Krankheit anerkennen? Die primäre Behinderung ergibt sich nicht aus der Hörschädigung, sondern dem Tinnitus und seinen bedingten Folgestörungen, u. a. verbundenen Belastungsstörungen.
Diese Krankheit - ein Lärmhörschaden – ist im schweren Fall, eine chronische Pein des lauten Hörens von meist hochfrequenten, aber manchmal auch niederfrequenten verschiedenen Geräuschen auf beiden Ohren. Diese Geräusche besitzen keine äußere, für andere Personen wahrnehmbare Quelle. Unterschiedliche Auslöser können diese Krankheit von heute auf morgen herbeiführen. Heilung ist – wenn überhaupt – nur innerhalb der ersten Tagen möglich.
In der ausgeprägtesten Form ist die chronische Erkrankung mit all seinen Folgen (physisch, psychisch, beruflich, geistig, sozial) eine recht hoch einzuordnende Behinderung – der Betroffene kann nur mit permanent höchster Willensanstrengung eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erreichen. Es erfordert rund um die Uhr höchste psychische Anstrengung – ohne Pause – ja sogar im Schlaf – das gesamte restliche Leben. Vielen gelingt es nicht.
Wirkungen und Funktionsbeeinträchtigungen eines höchstgradigen Tinnitus sind für Nichtbetroffene kaum vorstellbar. Bedingte Folgewirkungen und Behinderungen beeinträchtigen die Lebensqualität sowie den seelischen Zustand negativ, haben krankhafte körperliche Auswirkungen und gehen einher mit hohem, täglichem Leidensdruck.
Sie haben langfristig direkten Einfluss auf Körper, Geist und Seele.
Heilung? Wenn in den ersten drei Tagen nach Eintritt nicht geschehen – vergesst es! Alle paar Jahre wieder seit über 30 Jahren bei ihm das gleiche Spiel – hoffnungsvoll lässt er Wiederholungsuntersuchungen über sich ergehen.
Einen wirklichen Heilungsweg gab es bis heute nicht. Noiser? Die teuren „Noiser“ genannten Geräuschemacher sollen es seit wenigen Jahren richten. So ein Unsinn. Der zusätzliche Krach in den Ohren durch Hörgeräte mit Rauschfunktion kann bei wenigen Betroffenen höchstens lindern, aber NIE das Problem und Wirkungen beseitigen.
Sein Leiden
Beispielsweise sind es bei ihm 70 dB Schalldruckpegel auf einem und 90 dB auf dem anderen Ohr in unterschiedlichsten Frequenzen des Hochtonbereich. Das entspricht vergleichsweise dem Lärm von Rasenmäher, Hauptverkehrslärm, Lastwagen oder mittlerem Presslufthammer.
Er gab mal einem Behördensachbearbeiter in seiner Angelegenheit zu verstehen, er möchte doch bitte nur einen Tag einen Presslufthammer gleich unmittelbar neben seinem Fenster in Betrieb haben und dann seinen Job erledigen. Der Vergleich erzeugte wenig Verständnis. Wie auch. Stellt ihm erst den Presslufthammer hin.
Wie schon erwähnt – Tinnitus wird gewollter Weise nicht als Krankheit eingestuft, aber seine Symptome machen in vielerlei Hinsicht und in geballter Form krank. Auch bei ihm war es so – bis hin zum wiederholten lebensbedrohlichen Zustand.
Wie wir sehen werden, haben Folgen dieser Krankheit aber auch Vorteile. Er betont das. Da kommt bei ihm der unverbesserliche Optimist durch – die Quelle seiner Kraft.
Nun – warum ist er zugleich Tinnitus-Heiliger, -Klon und -Persönlichkeit?
Dazu drei kurze Episoden.
Ein Tinnitus-Heiliger
Ein Heiliger “Sankt Tinnitaurus”? Er betont – Nein – das sei er nun wirklich nicht. Er sei nur ein Tinnitus-Heiliger – jedenfalls, wenn wir dem Glauben bestimmter Völker der Gegenwart oder auch der Antike folgen.
Nach diesem Glauben entsteht das Ohrgeräusch im Inneren des Körpers bei Denjenigen, die die Stimmen der Götter hören. Die Ohrgeräusche seien sozusagen das Sprachrohr des Übernatürlichen. Betroffene empfingen ihre Weissagungen.
Nun – er kenne einige Götter in religiösen Werken. Nur – er selbst könne sich mit diesen Religionen nicht identifizieren – nur mit menschlichen, ethische-moralischen Normen.
Sollte trotzdem was dran sein – vielleicht definiert über die moderne Quantenphysik? Dann hätte er keine Behinderung, sondern eine Faszination in sich.
Ist es eine Tür zur Seele von Menschen, eine klangliches Abbildung der Umwelt oder gar Realität?
Es wäre ein Wunder – nur er will nicht spekulieren. Er beobachtet es weiter.
Ein Tinnitus-Klon
Kürzlich erfuhr er es – er sei auch ein Tinnitus-Klon. Mein Gott – erst Heiliger und dann noch Klon. Wie kam es dazu?
Er saß in der Tinnitus-Fachklinik zu einem Vortrag mit ca. 50 Leidensgefährten zusammen – alles erfolgreiche Inhaber von chronischen Ohrgeräuschen in schwerster Form. Wenn nicht erfolgreich – wären sie nicht anwesend.
Eigenartig, wie sich die Teilnehmer während des Vortrages in Äußerungen, im Verhalten, in Reaktionen glichen. Er konnte das real beobachten. Später bestätigte der leitende Facharzt diesen Eindruck.
Die Erklärung erschließt sich in nachfolgendem Fakt – der den Teilnehmer so nach und nach bewusst wurde. Es gibt neueste wissenschaftliche Untersuchungen für langjährige, hochgradig veranlagte Tinnitus-Patienten in Bezug auf ihre Persönlichkeitseigenschaften. Die sprechen zu über 99 % (!) den Betroffenen ähnliche bis gleiche Persönlichkeitseigenschaften zu.
Diese Eigenschaften sind in Jahrzehnten gewachsen – obwohl doch diese Menschen vor langer Zeit auf unterschiedliche Art zu ihrem lauten „Lebensgefährten“ kamen – egal, ob Frau oder Mann – durch schwere Knalltrauma, schwere Stressphasen, Gehörsturz, Schicksalsschlag und andere Dinge.
Ja – wir alle Betroffenen haben über den Daumen gepeilt die gleichen Persönlichkeitseigenschaften. Auf einmal fühlte er sich in diesem Haufen Tinnitus-Gepeinigter, wie unter Geschwistern – nein, noch gesteigert – wie ein Klon unter gleichen Klonen.
Ja – sagte er sich – wir alle sind ein Klon des ersten „Tinnitus-Urmenschen“.
Erstaunlich, wie gelassen das all die Geschwister hinnahmen. Ja – sie wirft Nichts so schnell um. Sie versuchen zuerst die Ursache zu ergründen, wenn neben ihnen eine Bombe platzt. Dann erst gehen sie in Deckung. Das kennt er zur Genüge.
Eine Tinnitus-Persönlichkeit
Eine Persönlichkeit im Sinne eines Vorbild zu sein, war immer sein Bestreben – wenn auch es ihm nicht immer gelang. Letzteres betont er. Nur – entscheidend ist immer die Bereitschaft, aus seinen Fehlern zu lernen. Dann trägt sogar der Fehler Positives in sich.
Dass er auch noch eine Tinnitus-Persönlichkeit wurde, lag wohl nicht in seinem Ermessen. Wie wir eben sahen, haben hochgradig veranlagte Tinnitus-Betroffene in Bezug auf ihre Persönlichkeitseigenschaften zu über 99% die gleichen Eigenschaften. Nun – er hat diese erkannten Eigenschaften seiner Tinnitus-Kampfgefährten mal zusammengefasst.
Hier seine Aufzählung der vordergründigsten Eigenschaften. Achtung – sie sind kein Horoskop, sondern real.
Diese Eigenschaften stellen gleichzeitig Segen und Fluch dar – wie man es nimmt.
Starke Selbstkontrolle, extrem perfektionistisch, hohes Pflichtbewusstsein und Loyalität, hohe Verantwortungsbereitschaft, können NIE Nein sagen, Kopfbezogenheit – das Gehirn arbeitet immer unter Volllast, Stärken eines Einzelkämpfers, hohes Durchhaltevermögen, hochgradig wiss- und lernbegierig, immer den nächsten Termin im Auge, hohes Kontrollbedürfnis, nachts Knirschen mit den Zähnen.
Und weiter geht es. Sie entwickeln ständig höchste Erwartungen an sich selbst, allerdings setzen sie ähnliche Maßstäbe auch an andere an. Dabei sind sie unerbittlich und ständig misstrauisch.
Sie sind chronische Glücksverweigerer und ohne positive Emotionen, aber phantasievoll und voll schöpferischem Wahnsinn.
Glück oder Freude spüren sie höchstens im Beisein von Familienangehörigen oder Freunden. Diese Bindung benötigen sie auch unbedingt. Andererseits sind sie sehr empfänglich bei Ungerechtigkeit.
Negative Emotionen, wie Angst? Das kennen sie, allerdings nur die Angst um Jemand, um Familie, Freunde, Mitmenschen oder um etwas in der Umwelt – aber nie Angst um sich selbst.
Sie wollen immer Leistung bringen – rund um die Uhr. Ja – selbst während der typischen Schlafstörungen arbeiten sie gedanklich weiter.
Erfolg- und Leistungsdruck? Den muss Niemand auf sie ausüben – das erledigen sie selbst in gnadenloser Selbstzerfleischung.
Sie sind kaum schreckhaft – bei Unerwartetem überlegen sie erst, was der Grund sein könne.
Sie leben permanent in Unruhe, in absoluter Daueranspannung bzw. im Dauerstress am Rande der Selbstzerstörung. Sie können dem nicht entkommen.
Die Außenwelt hat für sie eine größere Bedeutung als das eigene Dasein. Sie können sich nicht selbst darstellen – es hat keine Bedeutung – sie nehmen sich selbst nicht so ernst.
Ihnen entgeht Nichts – es gibt für sie nichts Unwichtiges. Sie können absolut Nichts so einfach ausblenden – sie wollen und müssen die Welt retten – aber, sie sind auch in der Lage dazu.
Sie sind verdammt dazu, ohne Unterbrechung das Leben zu empfangen. Sie haben keine Zeit, der Krankheit auf die Spur zu kommen. Anderes oder Andere sind wichtiger.
Sie lassen sich von Nichts und Niemand unterwerfen oder vor die Karre spannen. Ihr Leben ist zu 100% nur einer Zwangsvorschrift unterworfen – dem chronischen, grauenhaften Tinnitus.
Ergo
Auch wenn ihm persönlich als Tinnitus-Folge manchmal und nicht zu selten der Kopf zu platzen droht – wenn das schlagartige, dialektische Überlaufen droht – er sieht es positiv.
Leute ich kann euch sagen – er ist ganz froh mit seinem Tinnitus-Besitz. Wer oder was hätte ihm sonst diese Stärke für’s Leben verliehen?
In einem scheinen sich aber Tinnitus-Klone zu unterscheiden. Es gibt Diejenigen, die mit einer Anti-Tinnitus-Strategie einigermaßen die Jahrzehnte überleben – trotzdem tagtäglich bewusst mit all dem Leidensdruck umgehen. Und – es gibt die Anderen, die sehnlichst auf den Tag warten, an dem das Licht ausgeht – dann hätten sie endlich ihre Ruhe.
Das war es schon. Das war sein Outing. Danke an ihn. Vielleicht macht sein Outing das Tinnitus empfänglicher für Menschen, die vielleicht auch das Problem besitzen oder in Eurem Umfeld leben und sie erleiden müssen.
Nur vergessen wir nicht – die vielen möglichen Tinnitus-Auswirkungen für höchstgradig Betroffene sind ungleich vielfältiger. Es ist erschreckend, was die Gesamtbehinderung bewirkt – und was die Welt da draußen kaum bewusst wahrnimmt.
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